Beim
gestrigen EM-Schlagerspiel spielte wie so oft die Geschichte mit.
Hilfloses Schulterzucken in den vorgeschalteten und anschließenden
Plapperrunden (Markus Lanz etc) über die starken Aversionen, die es seit
der Befreiung von den Nazis auch im Fußball seitens der Holländer
gegeben hat. - Und sowohl in deutschen wie auch in österreichischen
Plapperrunden machte die Episode die Runde, daß ein junger Holländer zu
deutschen Fans sagte, die Deutschen hätten seinem Opa während der
Besatzung das Fahrrad geklaut, doch wenn er es wieder bekäme, sei
endlich Friede zwischen Deutschen und Niederländern....
Ein Fahrradklau also. Eine Petitesse. Peanuts. Tatsächlich?
Tatsächlich ein erneuter Fall von Verdrängung und Geschichtsklitterung:
1940
marschierte die Reichswehr in Holland ein. Die Königin floh nach London
und der später als einer der 10 schlimmsten Kriegsverbrecher in
Nürnberg hingerichtete Arthur Seyß-Inquart wurde
Reichskomissar. Ab 1941 begann eine überaus repressive
Besatzungspolitik. Nachdem im Februar 1941 425 Amsterdamer Juden nach
Mauthausen (Österreich) deportiert wurden, rief die verbotene
kommunistische Partei zu einem Generalstreik und zur Solidarität mit der
jüdischen Bevölerung auf, der von vielen hunderttausend Niederländern
befolgt wurde. Von den 140.000 niederländischen Juden wurden, auch
mitteles vieler niederländischer Kollaborateure 107.000 in die
Vernichtungslager deportiert, nur 5000 Menschen überlebten. Zu
den Opfern der Deportationen gehörte auch die aus Deutschland
emigrierte jüdische Familie Frank. Sie hatte sich zwei Jahre lang in
einem Hinterhaus versteckt, bevor ihr Versteck 1944 verraten wurde. Die
Tochter Anne Frank wurde
nach Kriegsende zu einer Symbolfigur des Völkermords an den Juden. Ihr
Tagebuch mit Eintragungen über das Leben im Versteck wurde 1950 auf
Deutsch veröffentlicht.
1945
stand die kanadische 1. Armee vor der Befreiung der Niederlande. Die
Deutschen drohten jedoch, Dämme zu sprengen und weite Teile Hollands zu
fluten, so daß erst Anfang Mai 1945 die unter großem Hunger leidende
Bevölkerung befreit werden konnte.
Fußball wurde, was wenig bekannt ist, nahezu bis zum Ende der Besatzung gespielt:
"...
Man brauchte Ablenkung und ein Ventil für den Alltag. Auch für Juden
war der Fußball ein Mittel, sich Raum zu verschaffen. 90 Minuten lang
seine Stars anfeuern und nicht an den Alltag denken. Ganz nach dem
zynischen Motto von Reichskommissar Arthur Seyss-Inquart: „Wer Sport
treibt, sündigt nicht.“ Fußball wurde überall gespielt. Auch in
Konzentrationslagern. In Theresienstadt, in Dachau, im Kamp Westerbork
und selbst in Auschwitz wurde auf Befehl der SS ab und zu gespielt. In
den Akten ist ein Spiel aus dem Jahr 1944 in Dachau zwischen Gefangenen
und Aufsehern dokumentiert, das die Gefangenen mit 21:0 gewonnen haben.
Fußball
wurde als politisches Mittel missbraucht. Während des Spiels konnten
Razzien durchgeführt werden, Luftangriffe wurden gestartet. Hierbei
zählte auch der Ablenkungseffekt: Dazu passen auch die Einweihungen des
neuen Feyenoord Stadions „De Kuip“ 1939 und des Stadions „De Goffert“
in Nimwegen im gleichen Jahr.
Die
Bereitschaft zum Widerstand gegen die Besatzer war gering. Nur kleinere
Klubs, wie Union Gorkum, entschieden sich, den schwierigen Weg der
Opposition zu gehen. Der Club aus Gorkum löste sich auf, nachdem ein
NSBer, also ein Mitglied der niederländischen Nationalsozialisten, in
den Vorstand rücken sollte. Die großen Vereine wie Feyenoord Rotterdam, PSV Eindhoven, Heerenveen oder gar der selbsternannte „Judenverein“ Ajax Amsterdam
spielten weiter. Jüdische Spieler wurden beinahe ohne Ausnahme aus dem
Kader genommen. Das ging alles ganz problemlos. Der Club Ado Den Haag,
in den 30er Jahren mehrmaliger niederländischer Meister, war verschrien
als „NSB-Club“. Roda JC Kerkrade
wurde schnell umgenannt in „Speckholzer Heide“, da die Buchstaben JC
(Königin Juliana Combinatie) den Besatzern zu starke nationale Gefühle
enthielten.
Die
niederländische Nationalmannschaft spielte zum letzten Mal 1940 gegen
Belgien. Aber dies war nicht das Ende des nationalen Fußballs. Eine neue
Mannschaft formierte sich in Berlin aus Zwangsarbeitern. Bekannte
Spieler wie Bram Appel, der zuvor für Ado kickte, zogen jetzt das
Leibchen für deutsche Vereine über. Gegen die deutsche Mannschaft
spielten die Niederländer zum letzten Mal 1937 in Düsseldorf. Mit dem
Hitlergruß empfangen, marschierten sie aufs Spielfeld. Bei der
anschließenden Nationalhymne verweigerten die Oranjes allerdings
demonstrativ den Hitlergruß. Im Gegensatz zu Engländern und Spaniern,
die den Gruß als Zeichen der Freundlichkeit werteten. Richtige Stars
hatten die Niederlande nur drei: Abe Lenstra, Stürmer in Heerenveen,
Faas Wilkes, „der Johan Cruijf der 30er Jahre“ und Spieler beim AC
Milan, und Leen Vente, der Star von Feyenoord. Alle standen nie im
Verdacht, mit den Nazis zusammengearbeitet zu haben.
Der
bekannteste Fall ist der des KNVB-Vorsitzenden Karel Lotsy. Er soll
sich für die Nazi-Sache eingesetzt haben, gab Zustimmung für die
Sperrung jüdischer Schiedsrichter. „Die Chance ist zum Greifen nahe,
dass der neue Geist sich durchsetzen wird“, ist von Lotsy überliefert.
Rassistische Schlachtrufe und anti-jüdische Gesänge waren während der
Kriegszeit in den Niederlanden nicht üblich."
Die
Fahrrad-Geschichte hat Methode. Eigentlich - so wird uns suggeriert -
sind die Niederländer nur sauer, weil sie nahezu alle wichtigen Spiele
gegen die Deutschen verloren haben. Daran mag auch etwas wahr sein -
aber Fußball als Mittel, die Geschichte zu verharmlosen und Peanuts aus
Kriegsverbrechen zu machen, ist wohl der schlimmere politische Vorgang,
der anläßlich des Schlagerspiels praktiziert wurde.
Es liegt an uns wenigen Querköpfen, vorwärts zu denken und nichts zu vergessen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen